Geburtsgebrechen und die IV

Das Problem

Im Beispiel mit dem hohen Blutdruck wäre es ja ohnehin ungewöhnlich, würde die Krankenkasse über den Therapieverlauf informiert. Im Bereich der Invaliditätsversicherung ist das aber anders. Und das kann dann zu bedauerlichen Fehlentscheiden führen.

Die medizinische Situation

Wenn Kinder zur Welt kommen, dann sehen sie nicht sehr gut. Sehen ist etwas, das „gelernt“ werden muss, und wie das Kind heranwächst, so entwickelt sich auch das Sehvermögen. Diese Entwicklung ist meist im Alter von ca. 10–12 Jahren abgeschlossen, wenn in der Regel eine hundertprozentige Sehschärfe erreicht wird.

Kommt nun ein Kind mit einer Sehbehinderung zur Welt, so muss diese wenn möglich behandelt werden, um eine gute Entwicklung des Sehens zu ermöglichen. Einfach gesagt ist es sonst so, dass das Gehirn das schlechtere Auge «abschaltet» und sich das Sehen auf diesem Auge nicht oder nur sehr schlecht entwickelt. Das schlechtere Auge muss «trainiert» werden, um die volle Sehleistung zu entwickeln.

Geschieht dies nicht, ist eine funktionelle Einäugigkeit die Folge. Und wenn die Sehentwicklung im Alter von 12 Jahren dann abgeschlossen ist, dann hilft kein Training, kein Abkleben – dann ist die Chance vertan und es verbleibt eine dauerhafte Sehbehinderung.

Deswegen ist es vorgesehen, dass diese angeborenen Sehbehinderungen als Geburtsgebrechen (GG) eingestuft werden (es gibt dazu eine Bundesverordnung in deren Anhang die anerkannten Geburtsgebrechen aufgeführt sind). In diesem Zusammenhang relevant sind die GG 425 und 427.

Der konkrete Fall 1

Wichtig: Dies ist eine kurze Übersicht über den Sachverhalt, die kompletten Sachverhalte sind im jeweiligen Urteil geschildert, s.u.)

Hier bestand bei einem Kind eine angeborene Sehminderung, welche behandelt wurde. Erst nach Beginn der Behandlung wurde (verspätet) die Anerkennung als Geburtsgebrechen (GG) beantragt. Die Anerkennung als (GG) wurde abgewiesen, weil zwar zum Zeitpunkt der ersten Diagnose die Kriterien zur Anerkennung als GG gegeben waren, aber die Anmeldung erst später erfolgte, als sich durch die inzwischen begonnene Therapie das Sehvermögen bereits gebessert hatte.

Diese verspätete Anmeldung war natürlich bedauerlich, hatte aber aus Sicht der Eltern eigentlich nichts an der Situation geändert: Das GG besteht und eine erfolgreiche Behandlung war begonnen worden.

Der Fehlschluss der IV bestand darin, anzunehmen, dass die verspätete Anmeldung auch bedeutet, dass keine Leistungspflicht besteht.

Die Verordnung ist jedoch eindeutig. Es ist irrelevant, wann ein GG erkannt wird. Eine rückwirkende Leistungspflicht entsteht  nur teilweise, maximal 1 Jahr, aber darum ging es hier nicht.

Als behandelnde Praxis war uns klar, dass hier ein Missverständnis vorliegen muss, und um dies aufzuklären haben wir auch selbst mit der entsprechenden Stelle bei der IV Kontakt aufgenommen. Allerdings wurde uns dort beschieden, für die Anerkennung als Geburtsgebrechen sei allein die Situation zum Zeitpunkt der Antragstellung massgebend. Das schien falsch, widersinnig und nicht im Einklang mit weder Verordnungstext noch Vernunft.

Leider musste dann der Vorgang vor dem Verwaltungsgericht Luzern ausgetragen werden. Dieses war in seinem Urteil eindeutig:

Entgegen der Auffassung der IV-Stelle ist für die Anerkennung eines Geburtsgebrechens nicht der Zeitpunkt der Anmeldung des Anspruchs bei der IV-Stelle relevant, sondern vielmehr der Zeitpunkt des Leistungsbeginns. Dieser Zeitpunkt ist im vorliegenden Fall aufgrund der Akten eindeutig eruierbar (…).

(…)

Zwar ist gestützt auf die vom Gericht eingeholte Beweisauskunft vom 11. Januar 2007 davon auszugehen, dass die Visuswerte am 23. Juni 2004 (rechts: 0.5; links: 0.6) bzw. im Zeitpunkt der Anmeldung (10.05.05) über den in Ziffer 425 bzw. 427 geregelten Visuswerten lagen. Dies vermag jedoch nichts daran zu ändern, dass der Beginn des Anspruchs auf medizinische Massnahmen mit dem Behandlungsbeginn des festgestellten Geburtsgebrechens zusammenfällt und falls eine weitere Behandlungsbedürftigkeit ausgewiesen ist, prinzipiell bis zum vollendeten 11. Lebensjahr von der IV-Stelle zu übernehmen ist (…).

(…)

Unter diesen Umständen hat die IV-Stelle das Kostengutsprachegesuch für das unbestrittenermassen am 8. Mai 2003 vorgelegene Geburtsgebrechen zu Unrecht verneint. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Einspracheentscheid vom 18. Januar 2006 aufgehoben. Die IV-Stelle Luzern hat dem Beschwerdeführer ab 10. Mai 2004 Kostengutsprache für medizinische Massnahmen für das Geburtsgebrechen Ziffer 425 auszurichten.

Klarere Regelung

Vielleicht gab es insgesamt eine gewisse Unsicherheit, wie denn damit zu verfahren sei, wenn sich während der Therapie die Sehschärfe (Visus) verbessert. Dankenswerterweise wurde die Situation dann sehr eindeutig geregelt, indem seit mindestens 2009 ein «Kreisschreiben über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der IV (KSME)» in Kraft ist, das genau diesem Sachverhalt regelt, indem es für das entsprechende GG besagt

Die Behandlung ist prinzipiell bis zum vollendeten 11. Lebensjahr zu übernehmen.

Eindeutiger geht es nicht. Dachten wir.

Der konkrete Fall 2

Wichtig: Dies ist eine kurze Übersicht über den Sachverhalt, die kompletten Sachverhalte sind im jeweiligen Urteil geschildert, s.u.)

Dieser Fall war im Grunde ähnlich, aber im Detail dann doch wieder anders gelagert. Hier war das Geburtsgebrechen (GG) bereits von der IV anerkannt worden und die Behandlung wurde bezahlt. Nach 3 Jahren Behandlung wollten die Eltern noch eine zusätzliche Therapie durchführen und stellten Antrag auf Kostengutsprache für diese Therapie.

Völlig überraschend hob die IV daraufhin die komplette Anerkennung des GG auf, mit dem Hinweis, dass aufgrund der aktuellen Sehwerte kein Anspruch mehr bestehe (gestützt auf die Beurteilung durch eine Kinderärztin und eine Allgemeinärztin). Ähnlich wie im Fall 1 wurde also die Verbesserung der Situation unter der Behandlung zum Anlass genommen, die Behandlung nicht mehr zu bezahlen – es beschliesst also die IV, dass kein GG mehr vorliegt.

Die Eltern gingen daraufhin vor das Kantonsgericht Luzern, das dann ein reichlich überraschendes Urteil fällte. Die Beschwerde wurde abgewiesen, die IV-Stelle bekam Recht zugesprochen. Das Gericht schreibt

Diese Messwerte [Anm.: gemeint sind die guten Sehwerte nach Therapie] sind aktuell und zwischen den Parteien auch unbestritten. Daher ist der IV-Stelle beizupflichten, indem sie die Voraussetzungen für das Geburtsgebrechen Ziffer 425 als nicht ausgewiesen betrachtet hat.

(…)

Daran vermögen auch die Vorbringen des Beschwerdeführers nichts zu ändern. Dieser ist der Ansicht, dass unter Ziffer 425.2 KSME explizit festgehalten werde, dass die Behandlung prinzipiell bis zum vollendeten 11. Lebensjahr zu übernehmen sei, unabhängig von einer Verbesserung der Sehkraft. Erst zwischen dem vollendeten 11. und bis zum vollendeten 20. Altersjahr müssten die Visuskriterien zur Anerkennung eines Geburtsgebrechens weiterhin erfüllt sein. Die Argumentation des Beschwerdeführers stützt sich hierbei auf das Wort «prinzipiell». Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass die bei der Definition des Geburtsgebrechens aufgeführten Voraussetzungen (Visuskriterien) ausser Acht gelassen werden dürfen. Die Visuskriterien definieren das Geburtsgebrechen. Sind diese Werte nicht erfüllt, ist der Gesundheitszustand von der IV-Stelle nicht als Geburtsgebrechen anzuerkennen. Auch der zweite Satz der Ziffer 425.2 KSME («Erst zwischen dem vollendeten 11. und bis zum vollendeten 20. Altersjahr müssten die Visuskriterien zur Anerkennung eines Geburtsgebrechens weiterhin erfüllt sein.») spricht gegen die Argumentation des Beschwerdeführers. Dieser besagt, dass die Visuskriterien zur Anerkennung eines Geburtsgebrechens zwischen dem 11. und 20. Altersjahr weiterhin erfüllt sein müssen – daraus ist zu schliessen, dass die Visuskriterien bereits vorher erfüllt sein müssen.

Das Kreisschreiben über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der IV besagt unserer Meinung nach ja ganz eindeutig, dass bis zum 11. Altersjahr gezahlt werden MUSS («prinzipiell»), auch wenn der Visus sich verbessert (was medizinisch vollkommen richtig ist). Danach nur noch in begründeten Ausnahmefällen. Das Gericht interpretiert dies nun offenbar anders.

Beim Lesen des Urteils fragt man sich, ob es nicht hilfreich gewesen wäre, wenn mehr augenärztliches Fachwissen zu Rate gezogen worden wäre.

Wie auch immer, die Eltern waren nun natürlich nicht begeistert von der Situation. Die Verordnungstexte, die medizinischen Fakten und die pure Logik sprachen dafür, dass das Gericht in ihrem Sinne urteilen würde. Das war nun aber nicht geschehen. Nach einigem Zögern ist dieser Fall dann vor dem Bundesgericht gelandet. Wir als Praxis können das nur begrüssen und die Eltern zu ihrem Mut beglückwünschen, für die Rechte ihres Kindes einzustehen!

Das Bundesgericht hat sich in seinem Urteil klar geäussert:

Der vorinstanzliche Schluss [Anm.: gemeint ist das o.e. Urteil des Kantonsgerichts Luzern], die Visuskriterien müssten bis zum Abschluss des elften Altersjahrs ununterbrochen erfüllt sein, findet in Gesetz, Verordnung und Verwaltungspraxis keine Grundlage, weil es in dieser Lebensphase wesentlich auch um die Erhaltung des erzielten Behandlungserfolges geht. Mit Vollendung des elften Lebensjahres ist erstmals über den Erfolg oder Nichterfolg der Behandlung der fraglichen Geburtsgebrechen Rechenschaft abzugeben. Sind dannzumal die Visuskriterien wesentlich verbessert und nicht mehr erfüllt, so bedarf es einer begründeten Verlängerung (…). Bei einer Visusverbesserung vor Vollendung des elften Altersjahrs besteht — e contrario [dt.: im Umkehrschluss] — ein unbegründeter Behandlungsanspruch zulasten der Invalidenversicherung. Wie aus dem Bericht der behandelnden Ärztin (…), Fachärztin für Augenheilkunde FMH, vom 14. August 2013 nachvollziehbar hervorgeht, geht es beim Beschwerdeführer nicht nur um die Verbesserung der Sehkraft, sondern auch um das «Halten» der erreichten Verbesserung. Insbesondere leuchtet ein, dass bei Kindern die Sehentwicklung erst im Alter von zehn bis zwölf Jahren abgeschlossen ist und die Behandlung bis dann benötigt wird, damit die erreichte Sehkraft nicht wieder verloren geht. Die von der Beschwerdegegnerin in der Verfügung vertretene Auffassung, es könne ein neues Gesuch eingereicht werden, wenn sich das Sehvermögen verschlechtere oder eine Schieloperation notwendig werden sollte, widerspricht den zitierten Verwaltungsweisungen. Indem die Vorinstanz sie schützte, hat sie Bundesrecht verletzt. Damit bleibt es bis auf Weiteres bei der Leistungspflicht gemäss Mitteilung vom 4. August 2010 über den 1. November 2013 hinaus.

Eindeutiger geht es nicht. Wieder mal.

Aber wie eingangs erwähnt haben wir uns entschlossen, dies auf unsere Homepage zu nehmen, weil ja offenbar eindeutige Sachverhalte immer offen für gegenteilige Interpretationen sind.

Die Urteile